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„Wir müssen keinen
Zucker produzieren.“

Rudi Erlacher, Präsidiumsmitglied des Deutschen Alpenvereins, über das Image als Kämpfer gegen den Eventtourismus, warum die Alpen mancherorts zu fett geworden sind – und warum sie ohne Alpenvereine ärmer wären.

Rudi Erlacher

Jahrgang 1949, ist in einem Skifahrerhaushalt im Bergsteigerdorf Kreuth aufgewachsen. Der studierte Physiker entdeckte schon früh die Faszination des Skitourengehens und Kletterns, entwickelte mit Mitte 20 einen kritischen Blick auf den Pistentourismus und erfand viele Jahre später die erste dynamische Klettersteigbremse. Wegen Erschließungen in den heimischen Bergen begann er sich Anfang der Neunziger verstärkt im Naturschutz zu engagieren. Seit 2003 ist er Mitglied im Vorstand des Vereins zum Schutz der Bergwelt; 2015 wurde er ins Präsidium des Deutschen Alpenvereins gewählt – und vertritt dort auch gerne unkonventionelle Meinungen.

Würden Sie die Alpenvereine als „Anwälte der Alpen“ bezeichnen?

Ich denke, das kann man so sagen.

Brauchen die Alpen denn Anwälte?

Ja, und zwar nicht nur Anwälte für die Bergsportlerinnen und Bergsportler, sondern auch für die Alpen als Biosphäre allgemein. Es gibt ja einen sehr langen Konflikt um den alpinen Raum, und dieser lange Konflikt hängt damit zusammen, dass die Alpen eine Allmende sind, also ein Allgemeingut. Die Tragik der Allmende ist, dass der Einzelne zuerst an sich denkt. Damit übernutzt er die Allmende. Auch der Bergsportler kümmert sich erst mal um sich. Deshalb braucht es Anwälte fürs Ganze. Und die Alpenvereine haben dieses Mandat als eingetragene Naturschutzvereine.

Besonders Akteuren aus dem Tourismus gelten die Alpenvereine seltener als Anwälte, sondern eher als Wohlstandsverhinderer und Neinsager. Warum ist das so?

Langfristig ist die Faszination des Gebirges so eine Art Zucker für den Menschen. Zucker hört nicht auf konsumiert zu werden. Als Folge entsteht eine ganze Industrie, die die Berge noch schmackhafter macht, indem sie die eigentlich schützende Schranke der Schwerkraft überwindet – motorisiert auf Wegen, oder mit Liften. Da muss man dann irgendwann Nein sagen. Wir nehmen den Leuten quasi den Zucker als Geschäftsmodell, der das Ganze adipös macht.

Der Kampf gegen die Fettleibigkeit klappt nur bedingt.

Das grundsätzliche Problem ist, dass der Alpenverein aus vielen Auseinandersetzungen als Verlierer hinausgegangen ist. Da kann man natürlich als Gegenseite gut den Neinsager konstruieren. Die hat in Wirklichkeit nämlich eine Riesenangst vor zwei Sachen: Erstens dem Klimawandel, der ihnen nicht nur die Basis, sondern auch die Legitimation für ihr Tun entzieht, wenn sie mit Schneekanonen dagegen anschießen. Zweitens wird ihre Klientel weniger. Auch deshalb, weil die Legitimität schwindet. Und jetzt kommt der Alpenverein daher und legt den Finger in die Wunde. Natürlich schimpfen dann die Wintertouristiker: ihr alten Neinsager!

Die sind ja auch nicht doof.

Und sie lernen dazu. Es werden nicht nur die rechtlichen Vorgaben bis zum letzten i-Tüpferl ausgelotet. Auch die Semantik, mit der man sich die Legitimation in der Öffentlichkeit verschaffen will, ist immer ausgefeilter geworden. Deshalb müssen wir Alpenvereine uns zusammentun, um ein neues Bild zu entwerfen, das die Deutungshoheit im alpinen Raum zurückholt.

Ein neues Bild vom Alpenverein oder der gesamten Alpen?

Das hängt beides miteinander zusammen. Dabei wird übrigens gerne vergessen, dass die Symbolik und Faszination des Alpenraums vom Alpenverein im Wortsinne entdeckt wurde. Was wir seit 150 Jahren so toll finden, wird jetzt von vielen anderen wie zum Beispiel der Tirol Werbung übernommen. Es sind unsere Bilder, mit denen sie in die Werbung gehen. Aber wenn wir warnen: Ja, wir haben diesen tollen Alpenraum, geht doch vorsichtig mit ihm um und baggert ihn nicht unterm Arsch weg, dann sind wir trotzdem die Neinsager und Verhinderer. Es ist inzwischen sogar so, dass Alpenvereine zum Neinsager gemacht werden, wenn sie noch gar keine Stellung bezogen haben. Sie haben vorhin vom Verlieren gesprochen.

Ist das Verliererimage nicht eines, in dem sich der Alpenverein inzwischen zu sehr wohlfühlt?

Das finde ich zu vordergründig. In der Bilanz geht es doch nur in eine Richtung. Wo sind denn große Skigebiete zurückgebaut worden? Man kann nur ganz selten sagen: Wir sind Gewinner – wie jetzt am Riedberger Horn. Allerdings muss ich mal prinzipiell sagen: Unsere Mitgliederzahlen wachsen unglaublich, beim DAV mit vier Prozent pro Jahr! Und bei AVS und ÖAV sieht es ähnlich aus. Das ist doch nicht das Image eines Neinsagers. Oder Verlierers.

Reden wir einmal über das Grundsatzprogramm Naturschutz der Alpenvereine. Dort heißt es beispielsweise, es gelte den Skibetrieb „umweltverträglich zu organisieren“. Als Alpenvereinsmitglied darf man also durchaus guten Gewissens zum Skifahren gehen.

Skifahren finde ich vom Prinzip her eine der ganz faszinierenden Bewegungsarten. Weil das Gleiten so anders ist als das Gehen. Das Tänzerische, die Geschwindigkeit. Für den Alpenverein ist es schon ein großes Anliegen, den Skisport so zu gestalten, dass er naturverträglich ist.

Also auch den Skisport mit Liftunterstützung?

Klar! Als Walter Pause 1958 das Buch „Ski Heil“ veröffentlichte, waren 49 Pistengebiete drin und 51 Tourengebiete. Grundsätzlich wurde da nicht zwischen Pisten- und Tourenfahren unterschieden. Das hat sich erst ausdifferenziert, als durch das Pistenskifahren der Naturraum nur noch vernutzt und zu sehr vermarktet wurde. Diese Differenzierung, die zu einer maßlosen Technisierung und Eventisierung führte, finde ich als begeisterter Skifahrer schade. Denn im Grunde ist Skifahren ein gutes ökonomisches Modell für einen ganz besonderen Naturraum – solange man dessen Besonderheiten respektiert.

Sind der Bergsport, dem sich die Alpenvereine ja verpflichtet sehen, und Naturschutz überhaupt vereinbar?

Bergsport und Naturschutz sehe ich als Ergänzungsverhältnis: der Bergsport disponiert für den Naturschutz, ist aber kein Selbstläufer. Sehr viele Projekte in den Alpenvereinen zielen genau darauf ab, Naturschutz und Bergsport vereinbar zu machen. Es ist nur die Frage, was für ein Bergsport. In dem Moment, in dem du aus eigener Kraft unterwegs bist, gewissermaßen nahezu nackt, im Extrem wie ein Alex Huber beim Free Solo in der Großen Zinne, hast du automatisch ein Regulativ, eben diese Schranke der Schwerkraft. Die schützt den Raum vor seiner eigenen ästhetischen Faszination. Auch wenn es eine gewisse Ungerechtigkeit hat, weil dann manche ausgeschlossen werden.

Gerade Bergsportler fahren aber gerne mit dem Auto auf den letzten Parkplatz im Tal. Das hat mit umwelt- und naturverträglichem Bergsport wenig zu tun.

Man muss schon einmal sehen: Die Gesellschaft schaut viel strenger auf die Bergsportler als auf die, die auf die Malediven jetten. Sie sind halt näher dran an der Natur. Das heißt nicht, dass die Bergsportler die Kritik nicht auch zu Recht trifft – wie sie aber auch alle Stadt- und Strandtouristen treffen müsste. Die Alpenvereine können da nur versuchen, mit Projekten wie "Klimafreundlicher Bergsport" steuernd einzugreifen. Mitmachen muss dann aber der Einzelne.

Ist der freie Zugang zur Natur, wie ihn die Alpenvereine seit jeher reklamieren, dann überhaupt noch realistisch? Oder muss es in den Alpen nicht auch einfachRäume geben, aus denen Menschen bewusst ausgesperrt werden?

Das freie Betretungsrecht ist ein Rechtsgut, das wir verteidigen. Aber: Der Druck auf den alpinen Raum inmitten Europas ist groß und wird noch größer. Wenn der Bergsport mit der ökologischen Situation unvereinbar ist, muss der Primat die Unbeschadetheit der Natur sein. Der Deutsche Alpenverein ist sich dessen als ein nach Bundesnaturschutzgesetz „anerkannter Naturschutzverband“ bewusst. De shalb erarbeitet er zum Beispiel zusammen mit dem Bayerischen Umweltministerium ein Lenkungskonzept für Mountainbiker. Sollten solch defensive Konzepte in der Praxis nicht gelingen, dann könnte es für das Betretungsrecht eng werden.

Wie kann denn der von den Alpenvereinen geforderte umwelt- und sozialverträgliche Tourismus aussehen?

Der Bergtourismus muss eigentlich in den Tälern sein Geld verdienen. Wie bei den Bergsteigerdörfern. Sie haben auch gar nicht das Problem, irgendwann zurückfahren zu müssen, um nachhaltig zu sein. Das Problem, wie naturverträglicher Tourismus ausschaut, stellt sich nur dort, wo man über das Ziel hinausgeschossen ist; in Sölden oder Ischgl etwa. Und dort wird es immer schmerzlicher. Was passiert, wenn immer aufwändiger beschneite Pisten in zehn, 15 Jahren moralisch so unter Druck kommen, dass die jungen Leute nicht mehr Ski fahren wollen?

Auch die Alpenvereine sind mit ihren Hütten riesige Unterkunftsbetriebe und unterhalten eine touristische Infrastruktur.

Alpenvereinshütten wurde der Stachel des Profits genommen. Sie sind als Standorte für Touren im Gebirge keine Hotels und nicht auf Erweiterung ausgelegt. Sie müssen quasi keinen Zucker produzieren. Stattdessen gibt es eine Ressourcenspende der Mitglieder über Beiträge und Arbeit. Geld mit einer Hütte verdient vor allem der Hüttenwirt. Für das Design und die Infrastruktur aber ist die Sektion zuständig. Und die ist vorsichtig.

Dennoch befinden sich Hütten meist in sensiblen Räumen. Was tun die Alpenvereine, damit sich die Auswirkungen auf solche Räume in Grenzen halten?

Indem man erstens gewisse Sachen nicht tut. Keine weiteren Wege, keine weiteren Hütten. Zudem sind die Alpenvereine sehr engagiert in der ökologischen Sanierung ihrer Hütten – zum Beispiel bei der Energieversorgung oder bei der Abwasserentsorgung. Eine andere Möglichkeit wäre, dass man alle Hütten sprengt. Den Vorschlag gab es schon. Ich halte das aber mehr für eine rhetorische Schleife. Es ist nämlich so: Die Alpenvereinshütten sind für alle extrem wichtig: Für die Bergsportlerinnen und Bergsportler, für die Touristen und für die Touristiker.

Manchmal scheinen sich die Positionen der Alpenvereine zu widersprechen. Die Energiewende zum Beispiel muss besonders jeder Alpenanwalt gutheißen. Allerdings heißt es seitens der Alpenvereine oft: hier kein Pumpspeicherkraftwerk, dort keine Windräder.

Unser industrielles System ist erst deshalb in der jetzigen energieintensiven Ausprägung möglich geworden, weil wir auf in der Erdkruste gespeicherte Sonnenenergie zurückgegriffen haben: die fossilen Brennstoffe. Jetzt mussten die Umwelt- und Naturschutzverbände diesem industriellen System sagen: Hey, wenn ihr so weitermacht, dann sägt ihr den Ast ab, auf dem ihr sitzt. Als das endlich erkannt wurde und sich das industrielle System auf erneuerbare Energien einließ, da hätten die Umweltverbände sagen müssen: Wir sind ab jetzt nicht mehr verantwortlich für eure Energiebeschaffung. Jetzt sind wir wieder dafür da, die Kollateralschäden, die ja auch durch die erneuerbaren Energien entstehen, wie eben zum Beispiel Speicherseen in Hochgebirgstälern, zu kritisieren, abzumildern – und auch zu stoppen. Wir können nicht das industrielle System in seiner ungeheuren Energieintensität retten und gleichzeitig die Natur. Wir müssen sagen: Fahrt herunter!

Lassen wir einmal die Fantasie spielen: Wie, glauben Sie, würden die Alpen ohne Alpenvereine aussehen?

Ohne die diskursiven Prozesse der Alpenvereine, das Nachdenken über Umwelt und Natur, auch rechtliche Initiativen – schauen Sie den Bayerischen Alpenplan an – hätte die Inwertsetzung und die Kommodifizierung der Alpen noch stärker stattgefunden. Der Alpenraum wäre dem unmittelbaren Faszinationsinteresse stärker ausgeliefert. Gleichzeitig haben sich die Alpenvereine einer Erschließung der Alpen verpflichtet, die der Allmende-Struktur entgegenkommt und im Ganzen auf Nachhaltigkeit bedacht ist. Das hat letztlich auch den Naturschutz befruchtet, weil es zu einer gewissen Vorsicht im Umgang mit den Alpen geführt hat.

Wären die Alpen ärmer ohne Alpenvereine?

Die Frage ist: Was heißt ärmer? Eine Verarmung an Natur und Landschaft kann einhergehen mit einer kommerziellen Entwicklung, wenn die Ökonomie der Täler die Berge erobert. Ja, wahrscheinlich wären die Alpen ärmer an Natur. An unverfügter Natur.

Die Fragen stellte Dominik Prantl