Das Gespräch am runden Tisch beginnt schleppend und sachlich. Wissenschaftler dürfen keine Schwärmer sein. Sie haben sich an Fakten zu halten, nicht an ihre Emotionen. Es gibt nicht wenige Menschen, die würden von ihnen gerne eine klare Meinung hören, etwas wie: Baut Wasserkraftwerke! Oder: Reißt Seilbahnen ab! Aber der Wissenschaft geht es im besten Falle nur darum, die Grundlagen für Meinungen zu schaffen, ein Fundament für Wertungen. Sie können auch nicht die Frage beantworten, ob es wichtiger ist, Raufußhühner zu retten, wenn es stattdessen Millionen zu verdienen gibt. Die Klimatologin Andrea Fischer sagt es so: „Bevor es darum geht, was man schützen will, muss man wissen, was da ist.“
Anfrage beim Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung, Innsbruck: Ob es dort nicht einen Experten gäbe, der mal kurz erklären könne, worin die Einzigartigkeit der Alpen liege. Obwohl die Antwort per Mail kommt, hört man es in ihr laut lachen. Sie lautet sinngemäß, dass man für einen derartigen Generalisten doch ein paar Jahrhunderte zu spät dran sei, weil Humboldt und Saussure schon eine ganze Zeit tot sind und nur noch in der Überlieferung weiterleben. Aber es gebe freilich jede Menge Spezialisten, die bei einem runden Tisch gerne Auskunft geben. Physiker, Glaziologen, Biologen zum Beispiel.
Doch je länger das Gespräch dauert, desto mehr reden die Wissenschaftler und umso deutlicher wird, um was es geht. Keiner von den Forschern beschäftigt sich ja deshalb mit dem Gebirge, weil es ihm oder ihr völlig egal wäre. Da ist zum Beispiel Valerie Braun, Biologin mit Schwerpunkt Botanik. Sie redet von den Alpen als riesigem Wasserspeicher, der Biodiversität, die in den Hochlagen so viel empfindlicher ist, von unterschiedlichen Vegetationseinheiten auf kleinstem Raum. „Da merkst du schon teilweise innerhalb von einem Meter einen Unterschied.“ Fischer erzählt von den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Pascal Bohleber, der Glaziologe, spricht von der Informationsdichte, vom Blick in die Vergangenheit, den das Eis ermöglicht, und von bedrohten Gletscherarchiven. Irgendwann geht es um Küchenfliegenlarven und Birkhühner und Küchenschellen. Und zeitweise klingt tatsächlich so etwas durch wie eine Art Schwärmerei, auf wissenschaftlichem Niveau freilich.
Ein wenig Begeisterung ist durchaus angebracht. Was die Alpen nicht alles sind! Wollte man alle Funktionen dieses Gebirges beschreiben, ließe sich damit wahrscheinlich eine Bibliothek von der Größe des neuen Brennerbasistunnels füllen. Gleicht es doch in jeder Hinsicht einem dreidimensionalen Mosaik, das einst durch eine gewaltige Plattenkollision mitten in Europa entstanden ist. Dort bildet es seit jeher nicht nur ein ganz spezielles Biotop, sondern auch einen Riegel für die Menschheit, die das Gebirge beanspruchte und prägte wie sonst kein anderes weltweit.
Der Großlebensraum Alpen ist gewissermaßen das Resultat eines uralten Clashs von Natur und Kultur, eine Mixtur aus wenigen Wildnisresten in allen Höhenstufen, besiedelten Räumen und landwirtschaftlich geprägten Tälern. Es ist vom Alpenglühen bis zum Almrausch ein Ort der großen Phänomene, der kleinen Wunder wie der Zirbenaufzuchtshilfe des Tannenhähers und der enormen Vielfalt. 30.000 Tierarten, 13.000 Pflanzenarten, so lauten die nackten, die abstrakten Zahlen eines Ökosystems, das eigentlich nicht zu begreifen ist. Selbst komplett eigennützig veranlagte Gemüter müsste nach dem Bericht des Projekts AlpES, in dessen Rahmen sechs Alpenländer drei Jahre lang die Ökosystemdienst-leistungen des Gebirges erhoben, die Ehrfurcht packen. Sind doch beispielsweise die Flüsse gewaltige Energie- und Trinkwasserquellen und die Bergwälder natürliche Lawinenverbauungen sowie riesige Luftfilter zum Vorzugspreis – im Grunde nämlich gratis.
Die Alpen sind auch ein Ort der Geschichte, weil jede Zeit ihre Spuren hinterlassen hat, mal sanft, mal heftig. So wurde das Gebirge für Bergwerke durchbohrt, die heute keiner mehr braucht, für Almen vom Wald befreit, der sich heute oft zurückmeldet; und der Alpinismus erhielt hier seinen Namen. Beinahe jedes Tal entwickelte seinen Charakter, teils eigene Dialekte oder spezielle Siedlungsformen. Sogar der Krieg, der große Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde hier mit Stellungen rund um einzelne, im Grunde wertlose Fels- und Eisblöcke auf die Spitze getrieben. Immer – ob Bergbau, Landwirtschaft, Freizeit oder Schlacht – erforderte das Leben und Wirtschaften unendlich mehr Kraft als irgendwo im Flachland; hier spitzten sich kleine Erfolge zu großen Triumphen zu. Für Valerie Braun muss man daher eines bedenken: „Die Leute waren früher doch einfach stolz, wenn die Alpen mit Autobahn und Liften erschlossen wurden.“
Mit ihrer Einzigartigkeit, ihrem Brennglascharakter, der langen wissenschaftlichen Tradition bilden die Alpen gewissermaßen auch ein Mosaik an Funktionen. Sie stellen beispielsweise ein geradezu seismographisches Frühwarnsystem zur Verfügung, weil sensible Landschaften viel schneller auf einen Wandel reagieren, und zwar nicht nur die Gletscher. Sie liefern damit gleichzeitig Lösungen für andere Gebirge, mehr noch, für geographisch komplett anders geartete Regionen.
Am runden Tisch in Innsbruck fallen die Begriffe Lowlands und Highlands. Braun meint: „Auf Grund der Kleinstrukturiertheit in den Alpen findet sich eine Vielzahl von Anpassungsstrategien wie zum Beispiel der Landwirtschaft oder des Tourismus auf den globalen Wandel, die sich auf die Lowlands übertragen ließe.“ Den Lowland-Bewohnern, also jenen im Flachland rund um die Alpen, kann es nämlich nicht egal sein, was im Gebirge passiert, selbst dann, wenn sie dieses nie betreten. „Es wäre so, wie wenn der Baum sagt: Mir ist wurst, wo meine Wurzeln sind“, sagt Fischer. Was beispielsweise in Sachen Wasserhaushalt in den Alpen passiert, habe Auswirkungen bis in die Nordsee und das Schwarze Meer.
Aber Schönheit? Das kann die Wissenschaft nicht leisten. „Was ist Schönheit?“, meint Gletscherforscher Bohleber irgendwann. Er könne das nicht beantworten, nicht aus naturwissenschaftlicher Sicht. „Ich kann sagen, die Alpen sind als Gegenstand unserer Wissenschaft besonders reizvoll, weil ihre Informationsdichte Validierungen und Falsifizierungen erlaubt, die in anderen Gebirgen zum Teil schwierig sind.“ Also weiter zu Jens Badura, Kulturphilosoph im Bergsteigerdorf Ramsau. Wenn er nicht weiß, was die Schönheit der Alpen ausmacht, wer dann? Aber auch Badura ist das Wort Schönheit noch viel zu wenig. Er nennt die Alpen einen „starken Aufmerksamkeitsmagneten, eindrucksvoll in dem Sinne, dass sie eine Fülle an Eindrücken ermöglichen, innerhalb derer auch Schönheit sein kann.“
Wer mit Badura redet, stellt sehr schnell fest, dass er sich erstens mehr Gedanken über die Berge gemacht hat als die meisten anderen Menschen und die Alpen zweitens als eine Art Spiegel unserer Wünsche begreift. Er sagt dann beispielsweise: „Ich kann wunderbar eine Kulturanalyse der Gegenwart anstellen, wenn ich mir anschaue, was in den Bergen getrieben wird.“
Die Berge dienen für ihn aber auch als Rückzugsgebiet, ja, Kraftort. Er lebt gerne dort, er sagt das selbst. „Immer da, wo es aufsteilt, gibt die Welt einen Widerstand vor, der im Flachland in der Form nicht da ist.“ Er empfinde das als etwas, das ihn einerseits birgt, aber auch konfrontiert mit der Herausforderung, etwas zu tun. Und es wird bald klar, dass er es ein wenig schade findet, was aus den Bergen gemacht wird. Auch wenn er das so nie formulieren würde. Stattdessen sagt er: „Ein durch regelmäßige Aufenthalte bewirktes Einlassen auf den Gesamtzusammenhang, der die Berge ausmacht – das betrifft Natur und Kultur gleichermaßen, wird durch ein Fly-in–fly-out-Modell ersetzt.“ Heißt: Anreisen, Bergerlebnis abholen, abreisen.
Einer wie Badura gibt sich aber nicht damit ab, Fly-in-fly-out-Orte einfach zu verteufeln. Er sucht nach Ursachen. Eine sei, dass sich viele Touristen gar nicht mehr wirklich mit offenen Augen in die Alpen begeben. Stattdessen befriedigen sie nur noch Erwartungen. Gefördert wird die Erwartungshaltung seiner Meinung nach durch Klischeebilder, die sich in den vergangenen Jahrhunderten zwar nur unwesentlich gewandelt, aber letztlich durch das mantramäßige Wiederholen in der Werbesprache verfestigt haben. Kein Tourismusverband wirbt mit Stahlkabeln, die sich im Sommer durch die Landschaft ziehen, oder auch nur einer Sennerin mit dreckiger Schürze. Es brauche jedoch mehr als Klischees, um einen neuen Tourismus zu etablieren. Einen Tourismus, der die Alpen nicht nur als Gegenwelt mit Begriffen wie Unverfälschtheit, Authentizität und Wildnis begreift, sondern eben auch als Lebensraum. Einen Tourismus, der sich an den Bedürfnissen der ansässigen Bevölkerung ausrichtet statt an der reinen Erwartungshaltung. „Es muss nicht alles für alle mit dem eigenen Auto erreichbar sein. Nicht jeder Steig muss touristisch vermarktet werden, nicht jeder Komfortwunsch auf einer Hütte der Kategorie 1 erfüllt werden“, meint Badura.
Die Entwicklung geht in der Epoche des Noch-Möglichen freilich in eine andere Richtung. Die Hütte wird zum Wellnesstempel, der Steig zum Wunderwanderzwergenweg, der alte Zweiersessellift zur Zehner-Verbindungsgondel. Und weil das die Kapazitäten steigert, braucht es einen Großraumparkplatz, ein neues Kraftwerk, ein bisschen mehr Beton, der über das Mosaik gebreitet wird. Der Mensch knabbert sich stetig weiter vor, frisst sich hinein in die von ihm noch unbefleckten Räume – wobei der Seilbahnbetreiber dann immerhin die Gondeln grün streicht. Erstaunlicherweise ist im Nachhinein wiederum nie jemand unglücklich darüber, wenn einmal ein Moor gerettet, eine Seilbahn zurückgebaut oder ein Tal nicht erschlossen wurde. Stattdessen tauchen die vor Eingriffen bewahrten Regionen dann garantiert in einem der unzähligen Bücher über die letzten Wildnisse auf.
„Ich halte wenig von Verboten. Aber wir sollten mit dem Alpenraum so umgehen, dass er auch in Zukunft noch Freude macht.“ Andreas Gschleier sagt das. Er ist Bio-Obstbauer im Süden Südtirols, nicht weit von der Teutonenautobahn A22 entfernt, 34 Jahre alt, Vater von zwei Kindern, Bergsportler. Einer, der lieber gestalten als verwalten will, und das mit Hirn. Keiner, der immer nur das Schlechte sehen möchte.
Er weiß auch genau, was er an den Alpen hat: „Ein Alpenbewohner ist nicht verpflanzbar. Es gibt etwas, das ihn in dieser Landschaft verwurzelt.“ Er führt das auch darauf zurück, dass der Tanz zwischen den Extremen eine tiefe Verbundenheit erzeuge und man wohl noch immer sehr dankbar ist für das, was man trotz aller Widrigkeiten vom Boden bekommt. Aber eigentlich könne er diese tiefe Verbundenheit nicht wirklich erklären. Was er sehr gut erklären kann, ist die Vorbildfunktion, welche die Alpen und damit auch seine Bewohner hätten. „Sie sind ja der Inbegriff für bewohnte Berge. Was wir machen, wird anderswo oft nachgemacht.“ Das heißt nicht, dass die Alpen kein Unikat mehr wären, im Gegenteil. Gerade in Sachen Landwirtschaft attestiert er seiner Heimat eine Spitzenposition: „Es ist einmalig, dass so viele kleine Betriebe so funktionieren wie bei uns.“ Für ihn sei diese kleinstrukturierte Landwirtschaft das größte Gut, das Modell der Zukunft.
Er klingt auch ziemlich überzeugt wenn er sagt, dass man irgendwann an eine Belastungsgrenze stoßen werde, „allein wegen der Enge der Berge“. Und dass es etwas anderes dringender bräuchte, als Skilifte und Straßen und Vergnügungsparks, die Wildnis und Weite oft unwiederbringlich zerstören, nämlich „klare Ideen für einen Raum, der so dicht besiedelt ist und doch so wild sein kann“. Es gibt – und das wird zwischen den Verkäufern von glitzernden Bergseen und den Marktschreiern des Gondelwahns gerne vergessen – viele Typen wie ihn. Gestalter, die einen Alpenraum haben wollen, in dem eine Philosophie des Bewahrens zählt. Die sich auf die eigenen Ressourcen besinnen, Wohnkultur statt Siedlungsbrei suchen, die beiden Seiten, das Wirtschaften und die Wildheit, lieben. Und die ihre Alpen schön finden. Er sei in so vielen Gegenden gewesen, aber irgendwann habe ihn immer das Heimweh gepackt. Wenn er dann nach Hause komme, die Drei Zinnen sehe, oder am Rosengarten vorbeifahre, „da habe ich manchmal Gänsehaut“.
Mit Gschleiers Worten im Gepäck landet man irgendwann am Brennerpass, der – sofern man den gesellschaftlichen Konsens richtig verstanden hat – ein Beispiel für wirtschaftliche Notwendigkeit sein dürfte. Nicht weit vom Brennerpass führt ein Weg hinauf zu einer Hütte mit wunderbaren Weinen und noch besserem Essen. Ihr Name spielt keine Rolle, es gibt etliche davon in den Alpen. Bald verliert die Autobahn an Lautstärke. Es geht vorbei an einer ehemaligen Piste, die seit der Stilllegung des Skigebiets langsam wieder in den Wald integriert wird; die Lärchen tragen ein geradezu klischeehaftes Gelb. Man denkt an den Philosophen, der sich wohl über die Gelassenheit der Berge freuen könnte, und an die Wissenschaftler, die hier garantiert unter jedem Baum ein kleines Laboratorium erkennen würden und von denen einer sagte, man müsse so handeln, dass die Anzahl der Möglichkeiten größer wird.
Die Hütte oben ist biozertifiziert und holzverkleidet. Daneben protzt der bunkerähnliche Bau, der bis 1991 als Bergstation diente; an der Wand hängt noch eine alte Karte mit den Pisten. Heute parkt der Hüttenwirt, der sich mit Klaus vorstellt, aber auch Sepp oder Maria heißen könnte, sein Auto darin. Klaus hat keinen Nachnamen, aber eine große Anzahl an Möglichkeiten. Er sagt: „Ich weiß schon, wie viel Glück ich habe, neun Monate im Jahr hier oben sein zu dürfen.
Klaus ist ein bisschen unabhängiger als die meisten Menschen. Wenn es schneit, dann schneit es, und wenn die Sonne scheint, ist es auch gut. Für ihn sind die Berge auch ein Rückzugsort vor der Schneller-weiter-größer-Mentalität. Vor einiger Zeit habe er gehört, dass in einem großen Skigebiet jemand auf die Frage, ob es denn nicht langsam genug sei, geantwortet habe: Genug ist nie genug. „Da brauchst dann doch echt nichts mehr dazu sagen.“ Klaus sagt trotzdem dazu, dass für viele Kleine nebeneinander eigentlich genug Platz wäre. Klar, man lebe in einer Geldwelt und auch der Idealismus müsse sich rechnen. „Aber was willst denn noch reicher werden als reich?“
Es herrscht Ruhe, obwohl unten die Lastwagen und Motorräder und Autos durch die Alpen hasten. Hinten ist das oberste Stockwerk der Südalpen zu sehen, drüben die kleinen und tatsächlich noch einigermaßen dezent wirkenden Skigebiete von Sterzing und Ladurns, die bald zusammenwachsen sollen. Genug ist nie genug. Im Westen die Feuersteine mit einem Gletscher, der wie alle Gletscher der Alpen in den letzten Tagen vor dem großen Schneefall einen geplagten Eindruck hinterlässt, daneben die Felsspitzen der Tribulaune und ein Gipfel mit einer Pyramide wie ein Bausetzkasten der Geologie. Man könnte auch, ganz unwissenschaftlich und unphilosophisch ausgedrückt, sagen: Das Panorama ist echt schön.
Ganz kurz denkt man beim Blick über die Bergränder an die Geschmacksverstärker und die Inwertsetzung. Klaus, kein Romantiker, kein Brite, sondern ein Autodidakt aus der kleinen Südtiroler Stadt Sterzing, sagt, bei ihm auf der Hütte, da gebe es nicht einmal Brühwürfel.